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„Die Menschen wollen sich über die Natur erheben. Aber das funktioniert nicht mehr. Wenn es jemals funktioniert hat.“

Prof. Dr. Yari Or

ZIELE IM FOKUS

Mensch und Natur

Reflexionen über ein belastetes Verhältnis

Frau Prof. Dr. Or, womit befassen Sie sich in Ihrem Fach – der Sozialen Arbeit?
Soziale Arbeit ist eine Menschenrechtsprofession, insbesondere auch in der Zeit des Klimawandels, in der wir Klimagerechtigkeit global einfordern. Aber im Zeitalter des Anthropozän, in dem wir angekommen sind, und in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Faktoren für die aktuelle ökologische Krise geworden ist, da stellen sich noch ganz andere, viel grundsätzlichere Fragen. Die Forderung nach Klimagerechtigkeit, nach einer Reduktion von CO₂ und einer Umstellung der Lebensweise sind überlebensnotwendig und wichtig. Aber mindestens so wichtig ist es, darüber nachzudenken, warum es so gekommen ist. Nicht nur das Phänomen zu beschreiben, sondern zu verstehen, wieso wir als Menschheit es zur ökologischen Krise, die wir jetzt erleben und die schon lange absehbar war, haben kommen lassen.

Heißt Soziale Arbeit insofern, Menschen als Teil ihres größeren Ganzen in ihren vielfältigen wechselseitigen Bezügen zu erkennen, zu verstehen, zu beschreiben?
Ja, genau ... und dann angewandte Antworten auf diese Analyse zu finden. Die potenzielle Rolle der Sozialen Arbeit in Bezug auf die ökologische Krise geht über die Auswirkungen globaler Nord-Süd-Beziehungen sowie die Sinnentleerung und Entfremdung moderner Gesellschaften hinaus. Ich beschäftige mich auch theoretisch mit der Beziehung zwischen Mensch und Natur und arbeite daran, daraus eine fachbezogene Neuorientierung für das Verständnis menschlicher Entwicklung abzuleiten.

Geht es also um ein umfassendes, besseres und sogar neues Verständnis vom Menschen und seinem Sein in der Wechselwirkung mit der Natur?
Ja. Die Menschheit ist evolutionär auf einer Stufe angekommen, auf der sie durch ihre Technologien so machtvoll ist, dass alles, was sie tut, auf die Gesamtheit der Spezien auf diesem Planeten und das gesamte Ökosystem dieses Planeten Auswirkungen hat. Wir leben seit den 1950ern so weit über unsere Verhältnisse, dass viele der Biosysteme Schaden genommen haben. Wir halten uns für fast gottgleich in unserer Macht, aber sind es nicht. Die Logik des Fortschritts – immer mehr konsumieren, immer mehr produzieren, immer mehr Raubbau an der Natur, immer mehr Zerstörung – ist mittlerweile an ihre natürlichen Grenzen gekommen. Wir dürfen in unserer Egozentrik und Anthroprozentik nicht fortfahren wie bisher. Die eigentliche evolutionäre Herausforderung der Menschheit ist es jetzt, unsere Macht und unsere Fähigkeiten in Verantwortung für das planetare System anzupassen.

Kann uns dieser fundamentale Perspektivwechsel gelingen, uns fortan nicht als Krone der Schöpfung zu denken, sondern als Teil der Natur?
Wir leben und handeln auf Grundlage eines Welt- und Menschenbildes, in dem wir Menschen gleichsam getrennt von der Natur existieren. Diese Vorstellung resultiert aus dem christlich-patriarchalen Weltbild, nach dem der Mensch sich von der Natur abgegrenzt hat. Vorher verstanden wir uns als eins mit der Natur, dann aber wollten wir uns über sie erheben. Aber diese Trennung funktioniert nicht mehr, wenn sie es jemals tat. Heute jedenfalls erkennen wir aus den Biowissenschaften und auch den Sozialwissenschaften heraus, dass der Mensch Teil der Natur und mit allen Teilen des Gesamtsystems verbunden ist – von der Nanoebene bis ins planetare Umfeld. Wenn wir das erkennen, dann werden wir handlungsfähig sein wie nie zuvor und auch eine fürsorgliche, regenerative Rolle diesem Planeten gegenüber einnehmen können.

So, wie Sie Ihre Arbeit beschreiben, hätte ich Sie als Wissenschaftlerin eher bei den Theologen und Philosophen angesiedelt.
Ich bin Anthropologin und Lernwissenschaftlerin mit einem Schwerpunkt auf den Entwicklungsprozessen von Jugendlichen. Ich sehe den Menschen in seiner Entwicklung immer systemisch und gehe interdisziplinär vor, das heißt, ich schaue sowohl auf kulturelle Glaubenssysteme und soziale Systeme, als auch auf biophysiologische und psychologische Prozesse, um menschliche Entwicklung in ihrer Gesamtheit verstehen zu können. Bei einem Thema, das so komplex ist wie die Auswirkungen der ökologischen Krise auf den Menschen, ist dieses interdisziplinäre und holistische Vorgehen meiner Ansicht nach notwendig. Meine Aufgabe im Moment ist es, Literatur und Grundlagenstudien vor allem aus Psychologie, Medizin und den Neurowissenschaften auf einem durch Peer-Review-Verfahren gesicherten hohen wissenschaftlichen Niveau zu sichten und die Erkenntnisse für unser Fach weiterzudenken. Ich frage zum Beispiel: Welche ganz konkreten Einflüsse haben Veränderungen in der Umwelt und im Klima auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen hier in Deutschland? Welche negativen und welche positiven Einflüsse hat Natur per se? Und was bedeutet dies für das Feld der Sozialen Arbeit?

Welche bisher ungeahnten negativen Einflüsse hat denn zum Beispiel die Schadstoffbelastung durch Verkehr auf den Menschen – abgesehen zum Beispiel von Atemwegserkrankungen?
Verkehrsverursachte Schadstoffe in der Atemluft werden in unsere Körper aufgenommen und belasten dort nicht nur die Atemwege und die Lunge, sondern auch das zentrale Nervensystem. Sie führen zu Entzündungen im Gehirn und nehmen dadurch Einfluss auf unser Befinden und unsere Entwicklung. Es gibt inzwischen viele Belege dafür, dass die Schadstoffbelastung mit großen Risiken für die psychosoziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sowie mit dem Risiko, an Demenz zu erkranken, verbunden ist. Umweltbelastung wird sozial spürbar, indem sie zu ADHD, Depressionen, Angststörungen und sogar Suizid führt. Dieser enge und vielfältige Bezug zwischen Menschen und der Natur ist noch nicht in den angewandten Wissenschaften wie der Sozialen Arbeit oder auch der Psychotherapie angekommen. Wenn Kinder heute auffällig sind, dann suchen wir die Ursache in der Familie, in Trauma, Stress oder problematischen Familienkonstellationen.

Gibt es auch positive Einflüsse der Natur auf deren Teilsystem Mensch?
Auch dazu gibt es eine Vielzahl von Studien, die belegen, dass der Kontakt mit der Natur – mit dem, was wir in der Wissenschaft Blau- und Grünflächen nennen – also Wälder, Parks, Flüsse, Seen –, das menschliche System physisch und psychisch regeneriert. Der Hautkontakt mit der Erde, den wir etwa bei der Gartenarbeit oder im Wald haben, reduziert die Angst und steigert unser kognitives Potenzial mittelbar über ein Bakterium, das wir über die Haut in den Körper aufnehmen.

Welchen Beitrag leistet nun Soziale Arbeit zur Nachhaltigkeit?
Sie versetzt uns einerseits in die Lage, auf wissenschaftlich abgesicherter Basis den Naturschutz als umfassenden Menschenschutz, als ein essenzielles globales und unteilbares Grundrecht des Menschen einzufordern. Sie kann daher auch unmittelbar im Sinne der Klimagerechtigkeit agieren und zur dringend notwendigen sozial-ökologischen Transformation der Gesellschaft beitragen. Das Feld der naturbasierten Sozialen Arbeit speziell kann zur Wiederverbindung der Menschen mit dem „Rest der Natur“ beitragen und Menschen unterstützen, einerseits ihre physische und psychische Gesundheit wiederzuerlangen, andererseits aber auch darin wieder Sinn und Kraft zu schöpfen.

Was ist wiederum Nachhaltigkeit?
Ein Zustand, zu dem wir kommen müssen, in dem wir als Menschheit in Balance mit unserem System Erde leben.

Welche Rolle spielen Wissenschaft und Hochschule, um Nachhaltigkeit als neues Leitbild zu vermitteln?
Wir stehen ganz am Anfang. In der Sozialen Arbeit in Deutschland und Europa werden gerade die ersten sprichwörtlichen Samen gesät. Erste Interessierte finden zueinander und beraten, wie wir als Feld der Sozialen Arbeit der ökologischen Krise begegnen können. Global überprüfen Sozial- und Naturwissenschaftler veraltete Konzepte der Beziehung von Menschheit und Natur und überlegen, was ein neues Verständnis, das uns als Teil der Natur sieht, für ihre Disziplinen bedeuten kann. Die Hochschule ist aber nicht nur ein Ort der Forschung, sondern auch der Lehre. Und unter unseren Studierenden herrscht Konsens: Wir haben ein Problem.

M. RingwaldID: 10022
letzte Änderung: 21.06.2022