Müssen angehende Ingenieurinnen im Studium anders angesprochen werden als ihre Kommilitonen? Wie muss sich ein Studiengang präsentieren, damit er Frauen anspricht? Welche Geschlechterunterschiede müssen beim Bau eines Produkts berücksichtigt werden? Und was bedeutet es für die Sicherheit eines Produkts, wenn im Test nur mit Normgrößen eines Mannes gearbeitet wurde? Mit diesen und anderen Fragen befasst sich das Forschungsprojekt „Fachspezifische Gender-Fortbildungen für Lehrende der Ingenieurwissenschaften an Hochschulen und Universitäten (GenderFoLI)“. Es ist im Jahr 2018 am Gender- und Frauenforschungszentrum der Hessischen Hochschulen (gFFZ) gestartet, das an der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS) angesiedelt ist. Das Projekt hat zum Ziel, bedarfsgerechte Fortbildungen zu Gender-Studies für Lehrende der Ingenieurwissenschaften zu entwickeln, durchzuführen und zu evaluieren. Es geht dabei von folgendem Ansatz aus: Um den Frauenanteil an Hochschulen in den MINT-Fächern zu steigern, muss es gelingen, nachhaltig Fachkulturen zu verändern. Das Projekt – mit einer Laufzeit bis Januar 2021 – wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit rund 470.000 Euro im Rahmen der Förderlinie „Erfolg mit MINT – Neue Chancen für Frauen“ des Förderbereichs „Strategien zur Durchsetzung von Chancengleichheit für Frauen in Bildung und Forschung“ gefördert (Förderkennzeichen 01FP1724).
Der Frauenanteil unter den Studierenden der Ingenieurwissenschaften in Hessen sei erschreckend niedrig und auch bundesweit sähe es nicht besser aus, erklärt Dr. Margit Göttert, Projektleiterin von „GenderFoLI“ und zuständig für die Geschäftsführung und wissenschaftliche Koordination der Aktivitäten des gFFZ. Die wenigsten Frauen finden sich an den hessischen Hochschulen für Angewandte Wissenschaften in den Bereichen der Mechatronik (5,5 %) und des Maschinenbaus (7,7 %): Der Frauenanteil an den Studierenden fällt in zwei Studienbereichen damit unter 10 %. Es gäbe aber auch kleine Erfolge zu verzeichnen: Die Elektro- und Informationstechnik liegt bei 12 % und hat sich damit seit 2014 um fast 2 Prozentpunkte verbessert, und der Frauenanteil an den Studierenden der Ingenieurwissenschaften insgesamt steigt an den hessischen Hochschulen für Angewandte Wissenschaften leicht, aber kontinuierlich an (von 22,3 % im Wintersemester 2014/15 auf 24,2 % im Wintersemester 2016/17). (Für alle bisherigen Zahlenangaben: Vgl. www.gffz.de/gendermonitor) Deutschlandweit liegt der Anteil der Studienanfängerinnen im ersten Fachsemester in den Ingenieurwissenschaften insgesamt seit dem Jahr 1996 kontinuierlich nur knapp über 20 %, im Jahr 2016 waren es 25 % (www.komm-mach-mint.de/Service/Daten-Fakten auf der Grundlage von Open-Source-Daten des Statistischen Bundesamtes). „Dennoch tragen Bemühungen von Hochschulen für Angewandte Wissenschaften in Hessen Früchte. Das können wir in unserem Gender Monitor feststellen. Interdisziplinäre Fächer werden eher von jungen Frauen studiert und Umweltaspekte und soziale Ausrichtung motivieren ebenso zu einer Fächerwahl im Bereich der Ingenieurwissenschaften“, so Göttert. Aber eine männlich geprägte Fachkultur ändere sich nicht von heute auf morgen.
„Das Projekt geht zudem von der durch einschlägige Studien gestützten Erkenntnis aus, dass es für die innovative Forschung und Entwicklung der Zukunft entscheidend ist, dass Lehrende der Ingenieurwissenschaften Genderaspekte mitdenken und sie in ihrem jeweiligen Fachgebiet anwenden. Indem sie die Heterogenität der Studierenden als Chance sehen und sie als Innovations- und Gestaltungsfaktor begreifen, werden sie noch mehr in die Lage versetzt, zukunftsfähige Lehre zu gestalten“, so Göttert.
Im Rahmen von „GenderFoLI“ konzipieren die Mitarbeiterinnen Dr. Anna Voigt und Dr. Elke Schüller unter der Leitung von Göttert bundesweit Fortbildungen für Lehrende in den Ingenieurwissenschaften an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften und Universitäten. Die Weiterbildungen sollen sie motivieren und befähigen, hochschuldidaktische Genderkompetenz und Genderwissen in ihre Lehre zu implementieren, bedarfsgerecht zu modifizieren und ihren eigenen Beitrag zur Fachkultur zu reflektieren. Die Fortbildungen sollen in Form von Workshops durchgeführt werden. Neuartig ist die Einbindung aktueller Erkenntnisse der Genderforschung und hochschuldidaktischer Entwicklungen (z.B. Gender Toolboxes) in ein Fortbildungsangebot speziell für Lehrende der Ingenieurwissenschaften, das an deren Erfahrungen und Interessen anknüpft und sie in ihrem Expertinnen- und Expertenstatus für ihr jeweiliges Fach ernst nimmt. Das Projekt kooperiert dafür mit dem Nationalen Pakt für Frauen in MINT-Berufen „Komm, mach MINT.“ Angeknüpft werden soll dabei an die gesellschaftspolitischen Herausforderungen der Industrie 4.0, die für die Ingenieurwissenschaften viele Fragen aufwerfen.
„Wir möchten die Lehrenden befähigen, die eigene Lehre zu verändern und offen für unterschiedliche Blickrichtungen zu sein. Vorhandene Toolboxen mit Infomaterial werden oft nicht genutzt, deshalb fragen wir uns, wie Lehrende motiviert werden, diese für ihre Lehre zu erschließen. ,GenderFoLI‘ möchte Anlässe schaffen und die Lehrenden anleiten. Es zielt mit der Entwicklung von leicht zugänglichen und der Hochschulrealität angepassten Workshop-Konzepten zur Fortbildung von Lehrenden darauf ab, die Gruppe derjenigen zu erhöhen, die das zur Verfügung stehende Material auch tatsächlich nutzen und die eigene Lehre mit den dort enthaltenen Informationen in Dialog setzen“, so Göttert. Das Projekt konzentriere sich auf die Lehrenden der Ingenieurwissenschaften, da gerade sie Genderthemen oft als relativ fachfern und nicht relevant für ihre Lehre wahrnehmen, wenige Vorkenntnisse in diesem Bereich mitbringen und generell über großen Zeitmangel klagen, was der Motivation zu einer produktiven Nutzung der Gender Toolboxes entgegenstehe. Auch Studienberater/-innen und Gestalter/-innen von Studiengängen können von „GenderFoLI“ profitieren.
Lehrende an Hochschulen tragen sowohl in ihrem Habitus als auch in der Wahl ihrer Lehrinhalte entscheidend zu der Herausbildung bislang überwiegend männlich geprägter Fachkulturen bei und haben einen entscheidenden Einfluss auf die Ausbildung künftiger Fachkräfte. „Gelingt es ihnen nicht, Frauen in angemessener Weise für eine Partizipation bei der Gestaltung des digitalen Wandels zu gewinnen, gerät das Ziel, Deutschland zum digitalen Wachstumsland Nr. 1 in Europa zu machen, in Gefahr, da sonst wertvolles weibliches Nachwuchspotenzial nicht erschlossen und alternative – und damit kreative und innovative – Sichtweisen in die Weiterentwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft nicht mit einfließen können“, betont Göttert.
Flankiert werden die Workshops durch eine Auftakt- und eine Abschlusstagung mit Expertinnen und Experten der Gender Studies und der Technikwissenschaften. Die Auftakttagung wird am 29. und 30. November 2018 an der Frankfurt UAS stattfinden. Zum Abschluss des Projekts wird eine Handreichung präsentiert, die es Nachahmenden ermöglicht, sich zu informieren und die pilotierten Workshops an der jeweils eigenen Hochschule durchzuführen. Durch die uneingeschränkte Veröffentlichung der Ergebnisse u.a. auf einer projekteigenen Homepage erfolgt eine weite Verbreitung der Erkenntnisse und Instrumente mit dem Ziel, dass sie von vielen interessierten Lehrenden der Ingenieurwissenschaften anwendbar und übertragbar sind. Das Projekt wird von einem Expertinnen- und Expertenbeirat aus Professorinnen und Professoren begleitet: vertreten sind die Universität Linz, die TU Berlin, die Universität Kassel, die Hochschule Hannover, die Hochschule Fulda, die OTH Regensburg und die Hochschule sowie die TU Darmstadt. Prof. Dr.-Ing. Kira Kastell, Fachbereich Informatik und Ingenieurwissenschaften sowie Vizepräsidentin für Studium und Lehre der Frankfurt UAS und Vorsitzende des „Netzwerks Frauen im Ingenieurberuf“ des VDI – Verein Deutscher Ingenieure, fungiert als offizielle Vertreterin des VDI in diesem Projekt.
Fragen, die sich im Zuge der Industrie 4.0 stellen, sind mit der Verteilung von produktiver und reproduktiver Arbeit verknüpft. Die aktuelle Notwendigkeit, sich gesellschaftlich mit Sorgearbeit, also reproduktiver Arbeit, auseinanderzusetzen, ist dabei ein Strang. Wie eng diese gesellschaftliche Aufgabe mit technologischen Entwicklungen verknüpft ist, wird deutlich, wenn man Robotik und Pflegearbeit zusammenbringt. Reproduktive Fürsorgearbeit ist in der aktuellen Robotik-Forschung zum Kern von Technologieentwicklung erklärt worden. Diese Forschungs- und Entwicklungspotenziale bedürfen eines interdisziplinären Austauschs zwischen Ingenieurwissenschaften sowie Sozial- und Genderwissenschaften, um die innovativen Technologien der Zukunft zu entwickeln.
Kontakt:
Frankfurt University of Applied Sciences
gFFZ – Gender- und Frauenforschungszentrum der hessischen Hochschulen
Dr. Anna Voigt
Tel.: +49 69 1533-3158
voigt.a(at)gffz. de
Weitere Informationen zum gFFZ unter: www.gffz.de.