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Im Rahmen der Vorlesung und der Übungen im Zeichensaal bleibt das Entwerfen und Konstruieren abstrakte Materie. Die Kraft und Sinnlichkeit des Materials, dass was das Material uns abverlangt wenn wir es in einem Fügungsprozess zu einer Einheit verschiedener Materialien zusammenführen wollen, bleibt ein Geheimnis. Was auch ein Geheimnis bleibt, wenn uns die unmittelbare Auseinandersetzung mit dem Material fehlt, ist das „Machen“ und der Erkenntnisprozess, der aus dem Bearbeiten des Materials mit den Händen entsteht. Das Wissen um die Dinge reicht nicht aus, erst das Machen vervollständigt den Erkenntnisprozess. Otl Aicher, Mitbegründer der Hochschule für Gestaltung in Ulm (HfG) und einer der wichtigsten Designer des 20. Jahrhunderts, mit ebenfalls großem Einfluss auf die Architektur dieser Epoche, hat das Wissen als die „Rückseite des Machens“ bezeichnet. Wahrscheinlich sind beides, der analoge wie der digitale Prozess, das Arbeiten mit den Händen und das Denken in der abstrakten Zeichnung wichtige Wege der Auseinandersetzung mit Material, Ort und Raum. Der Fügungsprozess ist dabei eine grundlegende Komponente der Architektur und braucht das Bewusstsein, dass daraus eine Wand, eine Stütze ein Raum werden soll. Die daraus folgende Fähigkeit zu entwickeln ohne mit diesem Bewusstsein die Auseinandersetzung mit Material gesucht zu haben ist sehr schwer - eigentlich kaum möglich.

Dies bei den Studierenden beobachtend, wurde ein weiteres Format in die Baukonstruktionslehre eingeführt. Das Format ist so alt wie das Menschsein, es ist das Arbeiten am 1:1 Modell. Eine kleine Entwurfsaufgabe im ersten Semester, setzt voraus, dass alle Wandkonstruktionen ausschließlich mit einem maßlich festgelegten Ziegelstein konstruiert werden müssen. Der Ziegelstein steht dabei für das Modulare allen Bauens. Unabhängig von der Bauweise, dem Material, dem Fügungsprinzip setzt sich das Ganze der Architektur immer aus Teilen zusammen, die durch ihre Beschaffenheit, ihre Struktur und Größenordnung das Denken in Modulen erfordern. Der Ziegelstein macht dies sehr gut anschaulich. Aus der Zusammensetzung einzelner Steine wird die Wand, ein Bogen, der Raum. Die Kraft und Sinnlichkeit des Materials kann durch das Zeichnen allein nicht vermittelt werden. Es braucht die unmittelbare Erfahrung mit dem Material. Der Bogen vereint die Sinnlichkeit des Materials mit dem Prinzip der Fügung und der Idee des Raums.  Mit den Studierenden des ersten Semesters Baukonstruktion wird deshalb im Sommersemester 2018 einen Bogen gemauert.  Der Bogen überspannt eine Öffnung von 2,5 m, und wird mit einem Profil von 49 x 62,5 cm ausgeführt. Die Studierenden haben den Bogen mit den eigenen Händen gemauert, die Gesetzmäßigkeit eines Mauerwerksverbandes und die daraus folgende notwendige Maßhaltigkeit erfahren.

Am Ende wurde die tragende Schalung unter dem Bogen herausgeschlagen und der spannende Moment erlebt, in dem sich die Kräfte umkehren und die Bogenkonstruktion aus Ziegelmauerwerk sich mit einem Mal mit 1,8 Tonnen Gewicht frei tragend in der Auflagerkonstruktion eines Hohlkastens aus Seekieferplatten abstützt. Für die Studierenden war das eine wichtige Erfahrung. Warum sich ein Ziegelstein wünscht ein Bogen zu sein, wie es Louis Kahn formuliert hat, konnte hier sehr unmittelbar nachvollzogen werden. Deutlich wurde auch, wie aus dem einzelnen Stein ein komplexes Bauteil entstehen kann und wie der Ziegelstein zum einen die Maßhaltigkeit und Präzision des Mauerns einfordert und gleichzeitig die Fuge geringfügige Abweichungen verzeiht und damit die Rückkehr zum exakten Maß erlaubt.

Prof. Heinrich Lessing Architekt BDAID: 10103
letzte Änderung: 25.10.2021